Hat X11
eine Zukunft?
UNIX
ist tot, X11 ist tot, NFS ist tot – das hat man
seit Mitte der 90er zur Genüge gehört. Die „UNIX ist
tot“-Rufer sind inzwischen
weitgehend verstummt. UNIX ist nach wie vor eine feste Größe
in der IT-Welt,
nicht zuletzt bestätigt durch den großen Erfolg des
UNIX-Klons Linux. Wie steht
es aber mit dem X-Window-System, einer der ersten graphischen
Oberflächen, das
durch seine Netzwerktransparenz schon in den 80er Jahren große
Erfolge feierte
und mit X-Terminals echte Thin-Client-Technologie etablierte, lange
bevor das
Schlagwort „Thin Client“ Furore machte?
Es ist
still um X11
geworden, während lautstark nacheinander die Wellen des
Thin-Client-Computing
ins Land gerollt und wieder verebbt sind: Java-basierte NCs, Citrix
WinFrame
bzw. Metaframe, die Terminaldienste von Windows2000, Web-basierte
Applikationen
und, gerade im Anrollen, .NET. Alle diese Technologien zielen auf die
netzwerktransparente Arbeit mit zentralen Applikationsservern, genau
das, was
X11 bereits seit 15 Jahren leistet. Allerdings gilt für viele
heute der
X11-Standard als veraltet und schwerfällig. Ein Vorurteil? Ein
Blick auf die
Entwicklung des altgedienten Protokolls verhilft hier zu einem
objektiveren
Urteil.
Die
Entwicklung des X-Window-Systems
Die
Geschichte des
X-Window-Systems reicht bis in das Jahr 1984 zurück. Der Name
„X“ bezeichnete
eine performantere Weiterentwicklung eines älteren Window-Systems
namens „W“. X
war einfach der nächste Buchstabe im Alphabet. An der Bostoner
Elitehochschule
MIT wurde in den folgenden Jahren ein neues graphisches Anzeigesystem
entwickelt, das von vorne herein netzwerktransparent ausgelegt war,
d.h. die
eigentliche Applikation kann durch das Netzwerk getrennt von der
Anzeige, dem
X-Server, laufen. Die Netzwerk-Kommunikation zwischen Applikation und
X-Server
erledigt das X-Protokoll. Die Quellen dieses Systems waren immer offen
und frei
verfügbar, also „Open Source“, wie man heute sagen
würde. Nicht zuletzt diese
Tatsache verhalf dem X-Window-System zu einer breiten Akzeptanz bei den
meisten
UNIX-Herstellern, die – im sog.
X-Konsortium zusammengeschlossen – die Weiterentwicklung des
Systems
vorantrieben. 1989 entwickelte zudem die kanadische Firma Hummingbird
unter dem
Namen Exceed einen X-Server für DOS-Rechner und brach so eine
Lanze für X als
wirklich plattformübergreifendes System. Hummingbird sollte von da
an eine
entscheidende Rolle sowohl bei der Verbreitung als auch der
Weiterentwicklung
von X spielen.
Das
X-Window-System
durchlief in seiner frühen Entwicklung 11 Versionen, bis es 1987
universell einsetzbar
war. Seitdem
spricht man einfach von X11, und die Weiterentwicklung geschieht in
Form von
Releases – aktuell X11R6.6 – die z.T. erhebliche
Erweiterungen des Systems
enthalten. Der X11-Standard sieht dafür ein System von Extensions
vor und ist
dadurch offen für Innovationen. Dennoch kam es nach der
Veröffentlichung des
Release 6.3 im Dezember 1996 scheinbar zum Stillstand. Die Neuerungen
dieses
Releases, darunter der Versuch, X11 in das aufblühende Web zu
integrieren, fanden
keine Akzeptanz unter den führenden UNIX-Herstellern, das
kriselnde
X-Konsortium löste sich auf, während die IT-Welt gebannt auf
Java-basierte
Technologien blickte. Es sollten zwei Jahre vergehen, bis die Open
Group, die
1996 die Betreuung von X11 übernommen hatte,
ein neues Release – X11R6.4 – herausbrachte.
Verbreitung
von X11-Implementierungen durch freie
Programmierer
Wirkliche
Innovation kam von
ganz anderer Seite: Seit 1992 versorgt eine ständig wachsende
Gruppe freier
Programmierer unter dem Projektnamen „Xfree86“
Intel-basierte UNIX-Varianten,
allen voran Linux, mit Implementierungen des X11-Standards. 1994 folgte
die
Gründung einer Gesellschaft und der Beitritt in das X-Konsortium,
um dort aktiv
an der Entwicklung des Standards mitzuwirken. Im Gegensatz zu den
etablierten
UNIX-Herstellern unterstützte Xfree86 bereits Anfang 1997 den
Release-Stand 6.3
und – noch bedeutender – ist seither durch Entwicklung
eigener Extensions der Innovator im
X11-Umfeld.
Parallel
brachte die rasante Verbreitung von Linux einen ebenso rasanten
Aufschwung von
X11-basierten Desktop-Entwicklungen, allem voran die bekannten Systeme
KDE und
gnome.
Diese
Entwicklung war nicht
ohne Gefahren. Die eigenen Wege der Xfree-Gruppe drohten den
X11-Standard zu
zersplittern, was das Ende der Plattformunabhänigkeit bedeutet
hätte. Wiederum
engagierte sich der Softwarehersteller Hummingbird, dessen X-Server
Exceed zum
De-facto-Standard auf Microsoft-Plattformen geworden war. Im Jahr 2000
galang
mit der neu formierten X.org, deren Vorsitz der Hummingbird-Vertreter
in dieser
entscheidenen Periode innehatte, eine deutliche Wiederbelebung sowie
die
Reintegration der Xfree86-Gruppe. Seither ist X.org tatkräftig
bemüht,
Innovationen aus dem Xfree-Lager und inzwischen auch wieder
Beiträge der
kommerziellen X.org-Mitglieder, etwa den Internationalisierungs-Code
von Sun
Microsystems, in den offiziellen Standard aufzunehmen.
Extensions
ermöglichen den Einzug von X11 in neue
Anwendungsbereiche
Wie sehen
nun diese
Neuerungen in Form von X-Extensions aus und was bringen Sie dem
Anwender? Ein
einfaches Beispiel ist die XInput-Extension. Obwohl das X-Protokoll
ursprünglich nur von Arbeitsplätzen mit Maus und Tastatur
ausging, erlaubt
diese Extension die Integration neuer Eingabegeräte, wie
Digitizer,
Zeichentabletts u.ä. Die XGL-Extension hingegen bildet eine
Brücke zu OpenGL,
einem eigenen, breit unterstützten Standard für performante
Techniken der
3D-Darstellung. Da OpenGL ständig weiterentwickelt wird,
profitiert automatisch
X11 von Neuerungen auf diesem Gebiet. Moderne Arbeitsplätze sind
oft mit
mehreren Monitoren ausgestattet. Um diese zu einem Riesen-X-Display
zusammenzufassen, schuf die Xfree-Gruppe eine Extension namens
Xinerama, die
nun Teil des aktuellen X11-Standards ist. Weitere Extensions aus dem
Xfree86-Lager betreffen beschleunigte Videodarstellung und moderne
Render-Methoden. Eine weitere Neuerung steht bereits auf der Roadmap
für die
nächste Ausgabe von Xfree86: die RandR-Extension. RandR steht
für „Resize and
Rotate“. Mit ihrer Hilfe wird es möglich, ohne Neustart des
X-Server die
Auflösung eines Displays zu ändern oder das Display
umzudrehen – man kennt
diese Möglichkeit von einigen TFT-Displays. Darüber hinaus
lassen sich mit
dieser Extension mehrere und wechselnde Farbmodelle, sog.
Server-Visuals, in
einem Display realisieren. Diesmal haben offenbar Ingenieure des
X.org-Mitglieds HP einen wesentlichen Beitrag geleistet.
Schon
alleine die
RENDER-Extension ist ein deutlicher Beweis für die
Innovationsfähigkeit von
X11. Mit ihrer Hilfe können X-Applikationen von Fähigkeiten
digitaler
Bildkonstruktion, wie sie moderne Graphikkarten bieten, profitieren. So
geschehen in den letzten Versionen von KDE und gnome, insbesondere zur
Darstellung kantengeglätteter Schriften. Zwar ist die
RENDER-Extension noch
nicht im letzten offiziellen Release des X11-Standards enthalten, doch
X.org
beschäftigt bereits eine Arbeitsgruppe mit dem Thema.
Auch
Windows-Nutzer profitieren von den Neuerungen
bei X11
Wie steht
es aber mit der
Verfügbarkeit dieser Neuerungen über das UNIX-Umfeld hinaus?
Hummingbird hat in
diesem Herbst die Version 8.0 von Exceed, ihres X-Servers für alle
gängigen
Microsoft Windows-Varianten, herausgebracht. Kann damit auch der
Windows-Nutzer
von den Neuerungen im X11-Bereich profitieren? Dies kann nur bejaht
werden.
Exceed ist in der Lage, mehrere Monitore gezielt anzusteuern oder in
beliebigen
Gruppen zu großen X-Displays zusammenzufassen. Ständig wird
die Liste der
unterstützten Eingabegeräte erweitert: Neben den
erwähnten Zeichentabletts sind
dies Wheel-Mäuse und – ganz aktuell –
die „dreidimensionale“ Maus LogiCad3D. Mit der
Version 8.0 ist
Hummingbird noch einen engagierten Schritt weiter gegangen: Neben den
„offiziellen“ Extensions der X11-Standards beherrscht
Exceed 8.0 als einziges
derartiges Produkt für die Windows-Plattform auch die
RENDER-Extension der
Xfree86-Gruppe. Damit können KDE- und gnome-Benutzer auch am
Windows-Desktop
mit allen Graphik-Features arbeiten. Für gnome, das ja von Sun und
HP als der UNIX-Desktop der Zukunft
platziert
und bereits mit Solaris 9 ausgeliefert wird, hat die neue
Exceed-Version noch
ein weiteres Feature durch die Unterstütztung der
gnome-spezifischen
Window-Manager-Extensions. So lassen sich die virtuellen
Arbeitsbereiche von
gnome parallel zum Windows-Desktop nutzen.
Insgesamt
entsprechen die
aktuellen Entwicklungen im X11-Bereich keineswegs dem Bild eines
sterbenden
Protokolls. Ganz im Gegenteil sorgen gerade die regen Aktivitäten
im
Linux-Umfeld für die Etablierung moderner GUI-Technologien und
erfreulicherweise auch dafür, dass inzwischen die großen
kommerziellen
UNIX-Vertreter die Weiterentwickelung von X11 wieder ernst nehmen.
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